Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit Konflikten
Konflikte aus der Sicht ehrenamtlicher Integrationsarbeit
Wir haben im Jahr 2019 über 70 Interviews mit Bautzenerinnen und Bautzenern geführt. Unser Fokus
lag dabei auf den Menschen, die Geflüchtete ehrenamtlich auf vielfältige Weise unterstützt haben.
Personen, die sich hauptamtlich in Vereinen und Verbänden, Ämtern und Behörden sowie der lokalen
Politik mit diesem Themenfeld beschäftigten, ergänzen die Betrachtungen. Ihre Erzählungen beziehen
sich hauptsächlich auf den Zeitraum von 2015 bis 2018, als der Zuzug von Geflüchteten und die damit
verbundenen Konflikte auf ihrem bisherigen Höhepunkt waren.
Die dargestellten Zitate zeigen Ausschnitte aus den Interviews und vermitteln einen Eindruck von der
Vielfalt der Perspektiven. Ähnlichkeiten der Grafiken mit tatsächlichen Personen in Alter,
Geschlecht, oder sonstiger äußerlicher Merkmale sind zufällig.
Welche Bedeutung hat Ehrenamtliche Arbeit für Geflüchtete in Bautzen?
Ich denke, das Ehrenamt ist immer dann gefragt, wenn Situationen eintreten, die nicht vorhersehbar waren für Verwaltungen. Wie damals, als die Flüchtlinge eben vor der Tür standen, weil das Ehrenamt einfach viel schneller reagiert als Institutionen.
Ehrenamt
Wir brauchen euch Ehrenamtliche in dem Sinne, dass es individuelle Betreuung gibt für die einzelnen Personen, die wir als Amt gar nicht leisten können, auch gar nicht leisten wollen.
Öffentliche Verwaltung
Wir haben in Bautzen ja über 300 Vereine. Eigentlich sind Vereine, ist Ehrenamt die kleinste demokratische Keimzelle. Ich denke, Vereine und Ehrenamt ist wirklich das, was unsere Demokratie ausmacht.
Öffentliche Verwaltung
Also, es kommt viel zurück. Ich sage immer zu Menschen, die die Freundschaft und die Herzlichkeit noch nie erlebt haben, die sind selber schuld. Die haben eigentlich etwas verpasst im Leben.
Ehrenamt
Wir fühlen uns natürlich schon ein bisschen wie der Anwalt des Geflüchteten, der zu seinem Recht kommen soll.
Ehrenamt
Ehrenamt ist ja die klassische Spielwiese für demokratische Prozesse überhaupt. Denn hier sind sozusagen Akteure aufeinander angewiesen, die aus unterschiedlichen Systemen kommen. Es ist quasi das Labor für das Gelingen von Gemeinschaft, denn man geht aus unterschiedlichen Machtpositionen miteinander um.
Zivilgesellschaftliches
Hauptamt
Welche Konflikte, Schwierigkeiten oder Probleme treten bei ehrenamtlicher Arbeit für Geflüchtete auf?
WUNSCH NACH POLITISCHEM RÜCKHALT
Um das Ehrenamt in Bautzen zu stärken, bräuchte es einen stärkeren Rückhalt von politischen Entscheidungsträgern. Leute, die ganz öffentlich sagen: ‚Hey, das finde ich wichtig und das finde ich richtig, was hier passiert, und dazu stehe ich‘.
Zivilgesellschaftliches
Hauptamt
Konkurrenz um Ehrenamtliche
Überall mangelt es eigentlich an Nachwuchs. Das hat nicht unbedingt nur was mit unserer Region zu tun, weil wir vom demographischen Wandel betroffen sind, sondern vielmehr, dass in der jüngeren Generation – vielleicht auch in meiner Generation – es eben nicht mehr so cool ist, sich in Vereinen zu engagieren. Das ist eigentlich ein wirkliches Problem, das wir bei den ganzen Vereinen haben.
Öffentliche
Verwaltung
Rassistische Diskriminierung
Wir waren immer hier willkommen, sind in jede Bar reingekommen. Plötzlich gibt es hier für Kornmarktcenter Disconight ein Verbot für die Dunkelhäutigen. Die sollen die Schlechten heraussortieren und nicht die Opfer, also die Stress bekommen können. Die sollen nicht solche rassistischen Menschen reinlassen.
Ehrenamt
Umgang mit kulturellen Unterschieden
Häufig sind es halt so Dinge über Pünktlichkeit, was wird erwartet. Es gibt bestimmte Bereiche, wie Zeitverständnis, also warum unterschiedliche Kulturen sich unterschiedlich organisieren sozusagen. Oder wenn jemand andere körpernahe Grenzen hat?
Zivilgesellschaftliches
Hauptamt
POLARISIERTE STADTGESELLSCHAFT
Sobald du hier irgendwas mit Geflüchteten machst bist du links, auch wenn du dich da politisch überhaupt nicht einordnest. Ich würde mich auch nicht als linke Person bezeichnen, aber das, was ich tue, ist den Leuten schon linksextrem. Also so tickt diese Stadt.
Zivilgesellschaftliches
Hauptamt
Konkurrenz um finanzielle Unterstützung
Es geht wirklich darum, dass in einer Region wie Bautzen, oder der Lausitz generell, es auch nicht so viele Firmen gibt, als dass jetzt jeder Verein dort fünf, sechs Großsponsoren hat. Es ist eigentlich ein Buhlen ganz vieler Vereine um ganz wenige Firmen und Unterstützer.
Öffentliche
Verwaltung
Vertrauensverlust gegenüber Verwaltung
Koordinatoren von ehrenamtlichen Bündnissen erzählen mir, dass sie auch Willkür erleben, zum Beispiel im Ausländeramt. Dass Mitarbeiter dort sagen: ‚Naja, ich hab einen bestimmten Entscheidungsspielraum und ich entscheide mich‘. Dass das als ungerecht und willkürlich empfunden wird, und da ist wieder die Frage, welche Stimme wird gehört. Es gibt gerade wenig Vertrauen vom Ehrenamt zu kommunalen Verwaltungsstrukturen.
Öffentliche
Verwaltung
Prekäre Projektarbeit
Es gibt ein riesengroßes Problem, das alle die betrifft, die eben in Projektarbeit drin sind. Das ist immer diese drei Jahre Finanzierung.
Zivilgesellschaftliches
Hauptamt
Fehlende Anerkennung und Anfeindungen
Ein Probelm ist, dass die Ehrenamtler damals wie heute beschimpft worden sind, ausgenutzt worden sind, dass man also froh war, dass diese Leute da waren, gleichzeitig sie aber verachtet und wo es ging ihnen ein Bein gestellt hat.
Ehrenamt
Unterschiedliche Vorstellungen von ehrenamtlicher Arbeit
Aber es gibt manche Menschen, die sagen ‚Ich helfe dir, ich helfe dir‘ ständig, obwohl die Geflüchteten das gar nicht wollen, und das ist wirklich eine Verletzung der persönlichen Sphäre von der betroffenen Person.
Zivilgesellschaftliches
Hauptamt
So eine Konfliktsituation – gut, man muss dann manchmal auch sagen ‚Das geht jetzt hier nicht, ich kann jetzt hier nicht jeden Tag Taxi spielen' und muss dann sagen 'Heute geht’s nicht, ich kann dich nicht jeden Tag abholen'.
Ehrenamt
Spannungen im sozialen Umfeld von Ehrenamtlichen
Es gibt sogar Konflikte, bei einer Person in der Familie, wo der Vater praktisch noch Familienterror gemacht hat und fast verboten hat, dass sie mit uns gemeinsam solche Betreuungsaufgaben macht. Sie hat gesagt ‚Ich will das aber, ich bin erwachsen und muss dich nicht fragen'.
Ehrenamt
Enttäuschung und Rückzug der Ehrenamtlichen
Es gibt Ehrenamtliche, die sich zurückgezogen haben. Auch aus Enttäuschung. Es gab auch einen Kreis von Ehrenamtlern in Bautzen und die haben 2015 angefangen und Anfang 2018 schon aufgehört.
Zivilgesellschaftliches
Hauptamt
POLARISIERTE STADTGESELLSCHAFT
Sobald du hier irgendwas mit Geflüchteten machst bist du links, auch wenn du dich da politisch überhaupt nicht einordnest. Ich würde mich auch nicht als linke Person bezeichnen, aber das, was ich tue, ist den Leuten schon linksextrem. Also so tickt diese Stadt.
Zivilgesellschaftliches
Hauptamt
Konkurrenz um finanzielle Unterstützung
Es geht wirklich darum, dass in einer Region wie Bautzen, oder der Lausitz generell, es auch nicht so viele Firmen gibt, als dass jetzt jeder Verein dort fünf, sechs Großsponsoren hat. Es ist eigentlich ein Buhlen ganz vieler Vereine um ganz wenige Firmen und Unterstützer.
Öffentliche
Verwaltung
Spannungen im sozialen Umfeld von Ehrenamtlichen
Es gibt sogar Konflikte, bei einer Person in der Familie, wo der Vater praktisch noch Familienterror gemacht hat und fast verboten hat, dass sie mit uns gemeinsam solche Betreuungsaufgaben macht. Sie hat gesagt ‚Ich will das aber, ich bin erwachsen und muss dich nicht fragen'.
Ehrenamt
Enttäuschung und Rückzug der Ehrenamtlichen
Es gibt Ehrenamtliche, die sich zurückgezogen haben. Auch aus Enttäuschung. Es gab auch einen Kreis von Ehrenamtlern in Bautzen und die haben 2015 angefangen und Anfang 2018 schon aufgehört.
Zivilgesellschaftliches
Hauptamt
Zwischen wem sind Konflikte aufgetreten?
Zwischen wem sind Konflikte aufgetreten?
Wie haben sich Strukturen oder Institutionen in Bautzen verändert?
PROFESSIONALISIERUNG DER ÖFFENTLICHEN VERWALTUNG
2015, wo wir hier als Struktur angefangen haben, da gab es den Bereich
ja noch gar nicht, auch nicht in der Stärke, wie wir heute personell vertreten sind. Viele Dinge,
die wir heute im hauptamtlichen Bereich haben, die wir heute professionell organisiert haben,
wurden damals vom Ehrenamt
übernommen.
Öffentliche
Verwaltung
Aneignung von neuem Wissen und Kompetenzen des Ehrenamts
Ich habe mich eigentlich selbst geschult. Wenn jetzt eine Schulung sein sollte, würde ich wahrscheinlich nicht teilnehmen, weil ich mir jetzt ein gewisses Wissen angeeignet habe und auch die Strukturen der Stadt kenne.
Ehrenamt
Erweiterung der Arbeitsfelder etablierter Vereine und Initiativen
Wir haben zum Beispiel die russlanddeutschen Vereine hier, die sich gut etabliert haben und auch in der Geflüchtetenhilfe viel Arbeit geleistet haben.
Öffentliche
Verwaltung
Stärkung und Neuschaffung zivilgesellschaftlicher Strukturen vor Ort
Als die Geflüchteten gekommen sind oder kommen sollten, da habe ich mich in einem Bündnis mit engagiert, die sich für eine tolerante und lebenswerte Stadt einsetzen, und daraus ist dann unser Verein entstanden.
Ehrenamt
Integrationsstrategie der öffentlichen Verwaltung
Wir hatten dazu im Jahr 2016 den Auftrag, als Amt ein Integrationskonzept zu machen. Das ist ja eine freiwillige Aufgabe - nach wie vor - und dazu gab es eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe. Wir sind auf den Titel „Integrationsleitlinien“ gekommen.
Öffentliche
Verwaltung
Erweiterung der Arbeitsfelder etablierter Vereine und Initiativen
Wir haben zum Beispiel die russlanddeutschen Vereine hier, die sich gut etabliert haben und auch in der Geflüchtetenhilfe viel Arbeit geleistet haben.
Öffentliche
Verwaltung
Integrationsstrategie der öffentlichen Verwaltung
Wir hatten dazu im Jahr 2016 den Auftrag, als Amt ein Integrationskonzept zu machen. Das ist ja eine freiwillige Aufgabe - nach wie vor - und dazu gab es eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe. Wir sind auf den Titel „Integrationsleitlinien“ gekommen.
Öffentliche
Verwaltung
Beispiele für einen konstruktiven Umgang mit Konflikten
Neubelebung und Professionalisierung des Ehrenamts
Anpassung ehrenamtlicher Angebote an die neuen Herausforderungen
Aneignung von neuem Wissen und Kompetenzen
Anpassung der Verwaltungs-
strukturen,
z.B. durch Schaffung des Bereichs „Integration“ im Ausländeramt Bautzen
Anpassung der Verwaltungs-
strukturen,
z.B. durch Schaffung des Bereichs „Integration“ im Ausländeramt Bautzen
Beispiele für konstruktiven Umgang mit Konflikten
Welche Auswirkungen haben die Konflikte auf das Zusammenleben in Bautzen?
Verhinderung ehrenamtlichen Engagements
Das ist glaube ich ein Riesenproblem, dass ich viele kenne, die auch zu mir sagen: ‚Ich würde ja auch gerne was machen, aber wenn mein Freund das erfährt, meine Eltern das erfahren, meine Arbeitskollegen das erfahren, habe ich ein Riesenproblem'.
Zivilgesellschaftliches
Hauptamt
Wegzug von Ehrenamtlichen aus Bautzen
Man muss natürlich auch immer sehen, dass Menschen wegziehen, sowohl hier aus Bautzen, aber auch aus Freital, etc., die es halt nicht mehr aushalten, wo halt der Name irgendwie hier in Bautzen an Hauswände gesprüht wurde: ‚XY, wir kriegen dich!‘
Ehrenamt
Spaltung von sozialen Strukturen
Ehrenamtliche Akteure mit dem Schwerpunkt Geflüchtetenarbeit haben in den letzten Jahren zum Teil sehr krasse Veränderungen im familiären Umfeld erleben müssen. Teilweise auch bei Arbeitgebern, wo das Thema aufgeploppt ist, wo sie zum Teil direkt darauf angesprochen wurden, wo ich Berichte höre, dass sie aufgrund ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit andere Aufgabenfelder auf Arbeit bekommen haben und sie aus dem Kollegium kritisch beäugt werden.
Öffentliche
Verwaltung
(Zeitweiser) Stillstand des öffentlichen Diskurses zu politischen Themen
Fremde zu agitieren in der Stadt oder so hab ich ein kleines bisschen aufgegeben. Ich hab da zwar ein schlechtes Gewissen, weil ich denke, man hat eben auch seine Verpflichtung, seine Meinung auch zu sagen, aber irgendwie mach ich das nur noch im Freundeskreis oder bei Bekannten.
Ehrenamt
Vermeidung negativ besetzter Orte
Man weiß ja zum Beispiel die Orte, wo man häufig beleidigt wurde, die meidet man halt. Man läuft dann halt auf dem Weg von der Arbeit nach Hause nicht mehr unbedingt über den Kornmarkt und macht dann teilweise vielleicht auch so Vermeidungsstrategien.
Ehrenamt
Vermeidung öffentlicher Meinungsäußerung
Man ist teilweise auch gehemmt, sich politisch zu äußern, weil
dann unter Umständen Mittel gestrichen werden, die man für die Bündnisarbeit
benötigt.
Ehrenamt
Spaltung von sozialen Strukturen
Ehrenamtliche Akteure mit dem Schwerpunkt Geflüchtetenarbeit haben in den letzten Jahren zum Teil sehr krasse Veränderungen im familiären Umfeld erleben müssen. Teilweise auch bei Arbeitgebern, wo das Thema aufgeploppt ist, wo sie zum Teil direkt darauf angesprochen wurden, wo ich Berichte höre, dass sie aufgrund ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit andere Aufgabenfelder auf Arbeit bekommen haben und sie aus dem Kollegium kritisch beäugt werden.
Öffentliche
Verwaltung
Vermeidung öffentlicher Meinungsäußerung
Man ist teilweise auch gehemmt, sich politisch zu äußern, weil
dann unter Umständen Mittel gestrichen werden, die man für die Bündnisarbeit
benötigt.
Ehrenamt
Konsequenzen der Konflikte
Ehrenamtliches Engagement geht verloren & Aktive ziehen weg
Von demokratischen Institutionen enttäuscht & durch fehlende Anerkennung frustriert
Soziale Strukturen (Familie, Freundeskreise, Arbeit) werden gespalten & politische Auseinandersetzungen bleiben aus
Die Lagerbildung in der Stadtgesellschaft nimmt zu
Konsequenzen der Konflikte
Migration im Allgemeinen wurde immer wieder als Anlass für aufkommende Konflikte wahrgenommen. Besonders bei der vermehrten Zuwanderung Geflüchteter in den letzten Jahren wurde dies deutlich. Diese Konflikte wurden und werden in der Regel auf lokaler Ebene, in den Städten und Gemeinden ausgetragen. Für unser Forschungsprojekt stellen wir das Konfliktwissen der ehrenamtlichen Integrationshelfer:innen von Bautzen in den Mittelpunkt, denn diese haben wie kaum eine andere Gruppe Einblicke in die entstehenden lokalen Konflikte. Sie vermitteln zwischen den Geflüchteten, der Verwaltung und der angestammten Bevölkerung. Sie sind der Kritik von Teilen der Bürger:innenschaft ausgesetzt, die Zuwanderung ablehnen, selbst innerhalb der eigenen sozialen Netze, und sie erleben konflikthafte Momente in der Arbeit mit Geflüchteten. Diese Betroffenheit führt auf Seiten des Ehrenamts zu einer hohen Belastung, sie ist aber auch eine wertvolle Ressource, die Einblicke in Ursachen, Dynamik und Konsequenzen von Konflikten ermöglicht.
Als Berührungspunkte verschiedenster Bevölkerungsgruppen waren und sind Städte unmittelbar von den Herausforderungen betroffen, die Migration an die Gesellschaft stellt. Durch das alltägliche Aufeinandertreffen von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Werten und Interessen sind sie Orte stetiger Auseinandersetzung, Aushandlung und Lösungssuche und können Impulse für gesellschaftlichen Wandel setzen. Wir gehen davon aus, dass Wandel nicht ohne Konflikte ablaufen kann. Häufig geht es bei Konflikten um Anerkennung und Teilhabe, Veränderung in Macht-, Entscheidungs- und Verantwortungsfragen.
Während Konflikte im Allgemeinen negativ besetzt sind und der offene Umgang mit ihnen oft vermieden wird, betont die soziologische Konflikttheorie die produktive Seite von Konflikten, welche dort als wesentliche Treiber gesellschaftlichen Wandels angesehen werden (siehe „Wissenschaftliche Grundlagen“). Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur immer wieder betont, dass Aushandlung von Teilhabe auch Stadtgesellschaften und städtische Institutionen verändern kann. Dies reicht von verändertem Verwaltungshandeln über die Gründung migrantischer Selbstorganisationen, die Einsetzung von Ausländerbeiräten, bis hin zu den Prozessen, die unter „interkulturelle Öffnung“ diskutiert werden. Da Städte letztlich das Ergebnis von anhaltender, langfristiger Zuwanderung sind, müssten - und sollten – sich diese Effekte auch in Bautzen wiederfinden.
Ausgangslage
Die Stadt
Bautzen
Bautzen ist eine Große Kreisstadt und mit rund 38.000 Einwohner:innen [1] ein Teil des Oberzentralen Städteverbunds „Bautzen-Görlitz-Hoyerswerda“ in Ostsachsen. In der Lausitz gelegen – dem größten Braunkohlerevier der DDR – ist die Stadt nach der politischen Wende direkt vom Kohleausstieg und Strukturwandel betroffen. Die soziale, demografische und infrastrukturelle Erosion der Region, die in den 1990er Jahren folgt und mit Abwanderung, Finanzschwäche und Verwaltungsumbau einhergeht, ist vielen Bautzener:innen als fremdbestimmter Strukturbruch im kollektiven Gedächtnis geblieben.
Mit ihrer Lage im Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland und als politisches und kulturelles Zentrum der Sorbinnen und Sorben blickt sie auf eine lange interkulturelle Geschichte zurück. Indes steigt der Ausländer:innenanteil in Bautzen zwischen 1991 und 2011 nur unwesentlich von 0,9 % auf 1,7 %. Mit dem vermehrten Zuzug von Geflüchteten ab 2015 erhöht sich der Anteil an Einwohner:innen mit ausländischer Staatsbürgerschaft innerhalb kurzer Zeit auf 4,4 % am 31. Dezember 2015, was 2.407 Personen entspricht. Nach dem Abschwächen des Zuzugs Geflüchteter nach Deutschland leben im Mai 2021 noch 1.253 Personen mit dem Status „Asyl“ im Landkreis Bautzen [2]. Bei den Kommunalwahlen 2019 tritt die AfD in Bautzen erstmalig zur Wahl an und wird mit 23,2 % die zweitstärkste Partei im Stadtrat (CDU: 24,4 %) [3].
[1] Online abgerufen am 20.06.2021 unter: https://www.statistik.sachsen.de/download/aktuelle-zahlen/statistik-sachsen_aI1_einwohnerzahlen-monat.xlsx
[2] Online abgerufen am 20.06.2021 unter: https://www.landkreis-bautzen.de/download/Auslaenderamt/Asyl_Unterbringung_2021_05.pdf
[3] Online abgerufen am 03.12.2021 unter: https://www.bautzen.de/fileadmin/media/statistik_wahlen/Wahlbericht-Stadtrat-2019.pdf
1.
Welche Konflikte sind in Bautzen im Zuge des vERmehrten Zuzugs Geflüchteter entstanden?
2.
Wie haben sich diese Konflikte auf die Stadtgesellschaft und die Institutionen der Stadt ausgewirkt ?
Forschungs-
fragen
Schluss-
folgerungen
Bautzen verfügt über eine ausgeprägte zivilgesellschaftliche Akteurslandschaft, die im Zuge der vermehrten Zuwanderung von Geflüchteten ab 2015 zunächst einen personellen und strukturellen Aufschwung erlebt. Wir fanden sowohl breites Engagement und Bündnisse für die Unterstützung von Zugewanderten vor als auch Kreise, die sich gegen die Zugewanderten und deren Unterstzützer:innen engagieren und zum Teil die Polarisierung vorantreiben. Bautzen befindet sich zum Zeitpunkt unserer Interviews in einer multiplen Extremsituation: Trotz positiver wirtschaftlicher Entwicklung halten Bevölkerungsverluste seit Jahrzehnten an, die Verwaltungsressourcen wurden über die Jahre verknappt, Personalmangel führt dazu, dass sich Stadtpolitik und Verwaltung auf die Pflichtaufgaben konzentrieren, während viele soziale Aufgaben als Draufgabe gelten. Gleichzeitig haben rechte Strukturen seit Langem in Sachsen frei agieren können und mittlerweile starken Einfluss auch auf die Akteurslandschaft und die Deutungshoheit öffentlicher Diskurse genommen. Dies führt dazu, dass im Zuge der plötzlichen starken Zuwanderung von Geflüchteten Überforderung mit Engagement zusammenfiel, aber auch mit politischer Ablehnung und der Zurückhaltung in Führungspositionen in der Verwaltung und Kommunalpolitik. Die Konflikte, welche in Bautzen scheinbar um die Zuwanderung von Geflüchteten herum entstanden sind, dienen daher nach unserem Erachten als eine Projektionsfläche und als Katalysator der verschiedenen bereits existierenden gesellschaftlichen Umbrüche und Herausforderungen.
In dieser Krise sind es die Ehrenamtlichen, die unterstützende Kapazitäten zeitnah mobilisieren und die Betreuungs- und Versorgungslücken von Ämtern und Verwaltung zunächst mit dem Notwendigsten schließen und anschließend auch Unterstützungsangebote organisieren, die darüber hinaus gehen. Die daraus entstandenen hauptamtlichen Strukturen der Zivilgesellschaft, ihr Wissen und ihre Kompetenzen werden jedoch selten über die Zeit ihrer Projektförderung hinweg verstetigt. Auf die Vitalisierung und Professionalisierung des Ehrenamtes folgt ebenfalls eine Professionalisierung der Verwaltungsstrukturen. In der Schaffung des Bereichs „Integration“ im Ausländeramt Bautzen sehen wir einen institutionellen Wandel, der als Reaktion auf die geänderten Anforderungen hervorging. Gleichzeitig reagieren die Institutionen teilweise mit einer Erweiterung der Teilhabe von Bürger:innen. So werden Vertreter:innen des Ehrenamts etwa in die interdisziplinäre Erarbeitung des Integrationskonzepts des Landkreises Bautzen sowie in den Runden Tisch mit einbezogen, der als Reaktion auf die Ausschreitungen am Bautzener Kornmarkt 2016 gegründet wird. Auch die Aktivierung migrantischer Teilhabestrukturen, wie der Migrantenselbstorganisation, sind Ergebnisse dieser Prozesse. Innerhalb dieser neu entstandenen Institutionen gibt es jedoch auch prekäre Strukturen, insbesondere im zivilgesellschaftlichen Bereich. So bahnen sich bereits Ermüdung, Ressourcenmangel und Wiederauflösung der entwickelten Strukturen an. Der Fall Bautzen zeigt, dass sich die zivilgesellschaftlichen Akteur:innen vor Ort mit den Themenkomplexen „Migration und Integration“ sowie „offene und demokratische Gesellschaft“ von Lokalpolitik und Verwaltung alleine gelassen fühlen und öffentliche Bekenntnisse und Rückendeckung vermissen. Besonders tragisch erscheint dies, wenn sich diejenigen Menschen frustriert und erschöpft von staatlichen Strukturen abwenden und diesen zunehmend kritischer gegenüberstehen, die sich vorher zivilgesellschaftlich für staatlich ausgerufene Ziele eingesetzt haben. Nicht zuletzt sehen wir hier auch einen der Hauptgründe für den Rückzug vieler Ehrenamtlicher aus ihrem Engagement.
Konflikte sind soziale Konstruktionen, in denen immer verschiedene Ursachen und Faktoren zusammenspielen. Es braucht einen offenen und vorurteilsfreien Blick, um alle Dimensionen des Konflikts verstehen zu können!
Konflikte sind nicht unbedingt negativ. Sie können auch Auslöser für gesellschaftlichen Fortschritt und Veränderung sein.
Gerade hinsichtlich migrationsbezogener Konflikte zeigt sich, dass die Gesellschaft im Gespräch ist und Aushandlung in Bewegung ist.
Kurzinfo zu Konflikten
Konflikttheorie
Migration im Allgemeinen und insbesondere die vermehrte Zuwanderung Geflüchteter in den letzten Jahren wurde immer wieder als Anlass für aufkommende Konflikte wahrgenommen, die in der Regel auf lokaler Ebene, in den Städten und Gemeinden, ausgetragen wurden und werden. Während Konflikte im Allgemeinen negativ besetzt sind und der offene Umgang mit ihnen oft vermieden wird, betont die soziologische Konflikttheorie die produktive Seite von Konflikten, welche dort als wesentlicher Treiber gesellschaftlichen Wandels angesehen wird (Simmel 1908; Mouffe 2014).
Georg Simmel
Naika Foroutan
Für einige Konflikttheoretiker:innen ist dieser Wandel gleichzeitig ein Fortschritt (z.B. Dahrendorf 1962), der gesellschaftliche Integration fördern kann (z.B. Coser 1956). Vertreter:innen radikaldemokratischer Theorieansätze sehen dies skeptischer, zumindest offener.
Hier gelten Konflikte als zentrales Element sozialer und historischer Entwicklung, es gibt sie immer und überall, doch ob sie Fortschritt bringen oder nicht muss unbeantwortet bleiben (z.B. Laclau 1990; Überblick in Flügel-Martinsen 2020). Ob der gesellschaftliche Wandel zur Stärkung von Demokratie und Zusammenhalt in einer pluralen Gesellschaft führt, muss daher als offene Frage angesehen werden (Großmann et al. 2021).
In der Migrationsforschung ist aktuell unter dem Schlagwort des „Integrationsparadox“ eine Hinwendung zu Konflikten zu beobachten, welche die derzeitig wahrgenommene Zunahme von Konflikten als Zeichen gelingender Integration interpretiert (Hadenius und Karvonen 2001; Teije et al. 2013; Tolsma et al. 2012; Treibel 2017). Besonders El-Mafaalani (2018) bringt diese Annahme in eine breitere Öffentlichkeit. Mit Bezug auf die frühe Konfliktsoziologie formuliert er, dass „die positiven Seiten eines Konflikts“ so herauszuarbeiten seien, „dass Fortschritt gewährleistet ist“. Foroutan (2019, S. 190) gesteht Konflikten zu, dass sie „systemintegrierend wirken und den sozialen Wandel fördern“. Auch hier gibt es pessimistische Stimmen.
Prominent vertritt etwa Heitmeyer (2018) die These, dass nationalistische, menschenfeindliche und autoritäre Tendenzen auf dem Vormarsch sind und dadurch die liberale Demokratie und die offene Gesellschaft bedroht seien. Ursachen sieht er in steigender sozialer Ungleichheit, in gesellschaftlicher Desintegration und demokratischen Kontrollverlusten in globalisierten, neoliberalen Gesellschaften.
Innerhalb unseres konfliktorientierten Ansatzes gehen wir davon aus, dass Städte Orte sozialer Unterschiede und daher Austragungsorte von Konflikten sind. Als Berührungspunkt verschiedener Bevölkerungsgruppen waren und sind sie daher unmittelbar von den Herausforderungen betroffen, welche Migration an die Gesellschaft stellt. Durch das alltägliche Aufeinandertreffen von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Werten und Interessen sind sie Orte stetiger Auseinandersetzung, Aushandlung und Problemlösungssuche und können Anregungen für gesellschaftlichen Wandel setzen. Wir gehen weiterhin davon aus, dass diese Prozesse nicht ohne Konflikte ablaufen können.
Häufig geht es bei Konflikten um Anerkennung und Teilhabe [1], Veränderung in Macht-, Entscheidungs- und Verantwortungsfragen. Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur immer wieder betont, dass Aushandlung von Teilhabe auch städtische Institutionen verändern kann. Dies reicht von verändertem Verwaltungshandeln über die Gründung migrantischer Selbstorganisationen, die Einsetzung von Ausländerbeiräten (Kersting 2020), bis hin zu den Prozessen, die als „interkulturelle Öffnung“ diskutiert werden. Da Städte letztlich das Ergebnis von anhaltender, langfristiger Zuwanderung sind, müssten - und sollten – sich diese Effekte lokal wiederfinden, denn: „... Institutionen – damit sind Ämter ebenso gemeint wie kommunale Unternehmen, Museen, Bibliotheken und Erziehungseinrichtungen – werden sich verändern müssen, um der zunehmenden Vielfalt gerecht zu werden. Dieser Wandel ist eine Überlebensaufgabe geworden“ (Terkessidis 2010, S. 8).
[1]Urban Planning Vol 6, No 2. 2021. Migration-Led Institutional Change in Urban Development and Planning.
Wissenschaftliche Literatur
Lewis A. Coser, 1956: The functions of social conflict. London: Routledge & Kegan Paul.
Ralf Dahrendorf, 1962: Gesellschaft und Freiheit. München: Piper.
Aladin El-Mafaalani, 2018: Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Oliver Flügel-Martinsen, 2020: Radikale Demokratietheorien zur Einführung. Junus.
Naika Foroutan, 2019: Die postmigrantische Gesellschaft: Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: transcript Verlag.
Katrin Großmann, Nikolai Roskamm, Maria Budnik, Annegret Haase, Christoph Hedtke, Norbert Kersting, Alexander Krahmer, Sven Messerschmidt, Julian D. Müller, Sina Resch, 2021: i.E. Konflikte als Hoffnungsträger. Auseinandersetzungen um die postmigrantische Stadtgesellschaft. In: Neue Politische Literatur, im Druck.
Axel Hadenius, Lauri Karvonen, 2001: The Paradox of Integration in Intra-State Conflicts. In: Journal of Theoretical Politics. 13, H. 1, 35-51.
Wilhelm Heitmeyer, 2018: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung. Berlin: Suhrkamp.
Norbert Kersting, 2020: Politische Repräsentation, und Integration. Zur Akzeptanz von Migrationsbeiräten. In: Björn Egner, Detlef Sack (Hrsg.): Neue Koalitionen - alte Probleme. Lokale Entscheidungsprozesse im Wandel, Springer VS, Wiesbaden, 181-198.
Ernesto Laclau, 1990: New Reflections on the Revolution of Our Time. London/New York: Verso.
Chantal Mouffe, 2014: Agonistik: die Welt politisch denken. Suhrkamp Verlag.
Georg Simmel, 1908: Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig: Verlag Duncker und Humbolt.
Irene ten Teije, Marcel Coenders, Maykel Verkuyten, 2013: The Paradox of Integration: Immigrants and Their Attitude Toward the Native Population. In: Social Psychology 44, 278-288.
Mark Terkessidis, 2010: Interkultur. Bonn: Bpb Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung. Bd. 1074.
Anette Treibel, 2017: Das Integrationsparadox. In: Karl-Heinz Meier-Braun, Reinhold Weber (Hrsg.): Deutschland Einwanderungsland. Begriffe - Fakten - Kontroversen. 82–83. Stuttgart: Kohlhammer.
Wilhelm Heitmeyer, 2018: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung. Berlin: Suhrkamp.
Norbert Kersting, 2020: Politische Repräsentation, und Integration. Zur Akzeptanz von Migrationsbeiräten. In: Björn Egner, Detlef Sack (Hrsg.): Neue Koalitionen - alte Probleme. Lokale Entscheidungsprozesse im Wandel, Springer VS, Wiesbaden, 181-198.
Ernesto Laclau, 1990: New Reflections on the Revolution of Our Time. London/New York: Verso.
Chantal Mouffe, 2014: Agonistik: die Welt politisch denken. Suhrkamp Verlag.
Georg Simmel, 1908: Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig: Verlag Duncker und Humbolt.
Irene ten Teije, Marcel Coenders, Maykel Verkuyten, 2013: The Paradox of Integration: Immigrants and Their Attitude Toward the Native Population. In: Social Psychology 44, 278-288.
Norbert Kersting, 2020: Politische Repräsentation, und Integration. Zur Akzeptanz von Migrationsbeiräten. In: Björn Egner, Detlef Sack (Hrsg.): Neue Koalitionen - alte Probleme. Lokale Entscheidungsprozesse im Wandel, Springer VS, Wiesbaden, 181-198.
Ernesto Laclau, 1990: New Reflections on the Revolution of Our Time. London/New York: Verso.
Chantal Mouffe, 2014: Agonistik: die Welt politisch denken. Suhrkamp Verlag.
Georg Simmel, 1908: Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig: Verlag Duncker und Humbolt.
Irene ten Teije, Marcel Coenders, Maykel Verkuyten, 2013: The Paradox of Integration: Immigrants and Their Attitude Toward the Native Population. In: Social Psychology 44, 278-288.
Mark Terkessidis, 2010: Interkultur. Bonn: Bpb Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung. Bd. 1074.
Anette Treibel, 2017: Das Integrationsparadox. In: Karl-Heinz Meier-Braun, Reinhold Weber (Hrsg.): Deutschland Einwanderungsland. Begriffe - Fakten - Kontroversen. 82–83. Stuttgart: Kohlhammer.